Eine Heilige mit Bart am Kreuz oder Wir brauchen weibliche Vorbilder in der Kirche!
Es gibt in meiner Kirche kaum weibliche Identifikationsfiguren. Auch wenn ich Protestantin bin, und Frauen „schon“ seit den 60er Jahren Pfarrer*in werden können, sind es doch immer noch Männer, die in der evangelischen Kirche präsenter sind. Feministische Theologie ist leider immer noch ein Thema am Rande und sogar die Bibelauslegung ist fast ausschließlich männlich dominiert. Und zwar so, dass es tatsächlich nur männliche Propheten, Jünger, Apostel oder Gläubige als Identifikationsfiguren gibt. Jesus, seine Jünger, Mose, Noah, Abraham, Josef – die Liste ist lang und sogar Kinder kennen diese Herren. Einzig allein Maria, die Mutter Jesu, ist von den patriarchalen Strukturen unangetastet geblieben und bis ins Unendliche „verheiligt“ worden. Und wenn ich jetzt überlege, welche Frauen aus der Bibel in meinem Glauben eine Rolle spielen, fallen mir keine weiteren ein. Miriam, Maria Magdalena, Ruth – klar, Frauen aus der Bibel kenne ich, aber sie finden selten einen Platz, in meinem Glauben, im Gottesdienst oder in der Theologie. Leider!
Und umso überraschter war ich, als ich im Museum eine Skulptur aus dem 14. Jh entdeckte, die eine Frau am Kreuz zeigte. Eine Frau! Mir gingen sofort viele Fragen durch den Kopf. Wer war sie? Meine Neugier war geweckt. Darüber musste ich mehr wissen!
Die Skulptur, die mir im Bode Museum begegnete, trägt den Namen „Heilige Kümmernis“ und geht auf eine christliche Legende aus dem 2. Jahrhundert zurück. Es ist eine Frau zu sehen, mit braunen, lockigen Haaren in einem rosafarbenen Kleid, die, wie Jesus, an einem Kreuz hängt. Es gibt viele Legenden, die die Geschichte der Heiligen Kümmernis (teilweise sogar widersprüchlich) erzählen.* Hier ist eine:
Die Heilige Kümmernis (die übrigens viele Namen trägt, wie z.b. Wilgefortis, Liberata, Ontkommern…) war Tochter eines sizilianischen Königs und bekannte sich zum Christentum. Ihr Vater wollte sie mit einem portugiesischen König verheiraten. Aber sie lehnte die Heirat ab, da sie allein zu Jeus gehöre und er ihr einziger, himmlischer „Bräutigam“ sei. Daraufhin ließ ihr Vater sie einsperren und peinigen, um seinen Willen zu erzwingen. Die Heilige Kümmernis beharrte auf ihre Ablehnung der Heirat und bat Gott um Hilfe, sie so zu verändern, dass kein Mann sie mehr begehre. Gott erhörte ihren Wunsch und ließ ihr einen Bart wachsen. Ihr Vater war über den Bart so entsetzt, dass er sie, wie ihren himmlischen Bräutigam, kreuzigen ließ. Vom Kreuz herab predigte die Heilige Kümmernis noch drei Tage und viele Menschen folgten ihr im Glauben und ließen sich taufen. Später sogar auch ihr Vater.
Als ich die Legende zum ersten Mal las, war ich fasziniert. Über die junge Frau, ihre Stärke und ihren Mut. Aber auch schockiert über die Härte und Brutalität des Vaters. Vor allem aber dachte ich: Genau diese Geschichten brauchen wir (Frauen)!
Die Legende über die Heilige Kümmernis existiert nachweislich seit dem 14.Jh. und war besonders beim Volk sehr beliebt. Sie wird als sogenannte „Volksheilige“ bezeichnet, da die Legende von der Katholischen Kirche nicht kanonisiert wurde. Die Heilige Kümmernis wurde auch nicht „heilig“ gesprochen. Aber das hinderte die Menschen und vor allem die Frauen im Mittelalter nicht daran sie zu verehren und zu ihr zu beten. Da sie sich besonders um Frauen kümmerte, wurde ihr daher wohl auch ihr Name verliehen („sich kümmern“= „Kümmernis“).** Der Ursprung der Legende ist bis heute unklar. Einige vermuten, dass Jesus-Darstellungen des Volto-Santo-Typs missgedeutet wurden. Im Mittelalter kam eine Vielzahl von Volto-Santo-Bildern nach Europa. Auf diesen Bildern wird Jesus mit langem Kleid und Krone dargestellt. So kam es zu einer fälschlichen Deutung von einer Frau mit Bart am Kreuz. Doch viele widersprechen dieser Theorie auch und gehen von zwei eigenständigen Figuren aus, die sich im Laufe der Zeit und in bestimmten Regionen miteinander vermischt haben. Die katholische Kirche war nicht begeistert über den Kult um die Heilige Kümmernis. So hat sie wohl auch durch Bilderverbrennungen immer wieder versucht die Popularität einzudämmen und zu beenden. Interessanterweise war es aber schwierig zu erkennen bzw. festzustellen, ob es sich auf den Bildern nun um Kümmernis-Darstellungen oder sehr weiblichen/ androgynen Jesus-Darstellungen (Volto-Santo) handelte. Woher die Legende der Heiligen Kümmernis letztendlich stammt ist am Ende unklar – sicher ist aber eines: Die Legende erzählt von einer Sehnsucht nach Toleranz, Selbstbestimmung und einer weiblichen Kirche. Weshalb ist sonst diese Geschichte gerade bei Frauen im Mittelalter so populär geworden?
Und da schließt sich gleich die Frage an: Kann die Heilige Kümmernis auch heute wieder populär werden? Ich sage: Sie sollte! Die Legende beinhaltet Punkte, die nicht oft in biblischen Geschichten aufgegriffen oder interpretiert werden können. Aus heutiger Sicht sehe ich in der Geschichte besonders die Themen Selbstbestimmung des eigenen Lebensweges und der Religion angesprochen. Es ist aber auch eine Geschichte des weiblichen Mutes und des weiblichen Glaubens und Vertrauens in Gott. Und der Bart? Er bietet der Heiligen Kümmernis im Mittelalter zuallererst Schutz vor der Zwangsheirat. Lässt mich aber auch sofort an Gender-Rollen in Gesellschaft und Kirche denken. Ich habe in einem Artikel gelesen, dass sie von einigen LGBTQI-Gruppen Patronin ist oder als Symbol eingesetzt wird. Die Geschichte der Heiligen Kümmernis hat viel zu bieten. Gerade weil die Geschichte aus verschiedenen Perspektiven interpretiert und Sichtweisen gelesen werden kann, kann sie für viele Menschen Identifikationsfigur werden. Lasst sie uns wieder (weiter-) erzählen!
*Ich beziehe mich bei meiner Darstellung auf die Ausführungen des Heiligen Lexikons von Stadler
**Oder genau andersherum das Verb „sich kümmern“ geht auf die Heilige Kümmernis zurück. Beim Recherchieren habe ich feststellen müssen, dass es kaum Literatur gibt. Und somit faktisch wenig und leider auch oft widersprüchliche Informationen vorliegen. Es gibt ein englischsprachiges, sehr ausführliches Werk welches mir nicht vorliegt („The Female Crucifix“ von Ilse E. Friesen).